[...]"Also: es ist möglich, fast ohne Erinnerung zu
leben, ja glücklich zu leben, wie das Tier zeigt; es ist aber ganz und
gar unmöglich, ohne Vergessen überhaupt zu leben. Oder, um mich noch einfacher über mein Thema zu erklären: es
gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem
Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt und zuletzt zugrunde geht,
sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur.
Um diesen Grad und durch ihn dann die Grenze zu
bestimmen, an der das Vergangene vergessen werden muß, wenn es nicht zum
Totengräber des Gegenwärtigen werden soll, müßte man genau wissen, wie
groß die plastische Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer
Kultur ist; ich meine jene Kraft, aus sich heraus eigenartig zu wachsen,
Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden
auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich
nachzuformen. Es gibt Menschen, die diese Kraft so wenig besitzen, daß
sie an einem einzigen Erlebnis, an einem einzigen Schmerz, oft zumal an
einem einzigen zarten Unrecht, wie an einem ganz kleinen blutigen Risse
unheilbar verbluten; es gibt auf der anderen Seite solche, denen die
wildesten und schauerlichsten Lebensunfälle und selbst Taten der eigenen
Bosheit so wenig anhaben, daß sie es mitten darin oder kurz darauf zu
einem leidlichen Wohlbefinden und zu einer Art ruhigen Gewissens
bringen."[...]
Auszug Kapitel 1